Von Prof. Dr. Walter Schmidt;
Abgedruck aus:
"Tagespost" Nr. 269, Graz, 29. September 1929, Seite 15,
StLA.Nr.265<
Jakob Grimm hat den Ausspruch getan, daß
bei jeder Sage ein historischer Hintergrund vorhanden sei, und die Forschung
hat seitdem die kräftigsten Belege für die Wahrheit dieses Satzes
gebracht. Diesen oft zitierten Spruch muß ich auch jetzt gelegentlich
der Ausgrabung des vorgeschichtlichen Noreia wiederholen. Die Sage erzählt,
daß im Hörfeld eine Stadt Nora (nicht wie üblich Hora,
wie mich Pater Romuald Pramberger nach Abschluß der Grabung belehrt,
der den Ortsnamen in dieser Form von einem alten Bauern gehört hat)
versunken sei. Diese Sage hat mich veranlaßt, im Gebiet des Hörfeldes
nach Noreia zu suchen; wiederholte Wanderungen und Streifungen haben mich
nach St. Margarethen bei Silberberg geführt. Die Heilige Margaretha
ist eine der vier Drachenheiligen (Hl. Magdalena, Georg), die Kirchenpatrone
der meisten bedeutenden vorgeschichtlichen Siedlungen bilden, deren Symbol
die Unterdrückung des Heidentums und die Ersetzung heidnischer Kulte
durch den ähnlichen Kult christlicher Heiligen ausdrückt (Noreia
- St. Margaretha).
Als ich vor neun Jahren nach St. Margarethen kam und von der Höhe oberhalb
der Kirche die Gegend betrachtete, sah ich vor mir breite Plateaus mit
den Feldern des Dorfes ausgebreitet liegen. Die Terrassen waren von steil
abfallenden Rändern umsäumt, zu einer natürlich befestigten
großen vorgeschichtlichen Siedlung wie geschaffen. Den Eindruck,
daß hier der heilige Boden Noreias liege, wurde ich nicht mehr los.
Die erste Erkundung brachte kein positives Ergebnis. Die beiden Römersteine
am Kirchenturm enthalten zwar keltische Namen, an Bodenfunden konnte ich
jedoch nichts ermitteln. Ein glücklicher Zufall fügte es, daß
ich bei einem Besuch vor zwei Jahren beim Schulleiter Alois Wretschko,
dessen rege Anteilnahme große Dienste geleistet hat, den Gemeindesekretär
und damaligen Bürgermeister Georg Gruber traf. Herr Gruber hat den
ersten Fund aufbewahrt, zwei vorgeschichtliche Spinnwirtel aus Stein und
Ton, die er inzwischen wieder gefunden und dem Joanneum geschenkt hat. Reste von fremdartigen Tonscherben
hat es sowohl auf seinem Feld, dem Gerichtsacker, als auch im Friedhof
beim Gräberausheben beobachtet. Diese Funde veranlaßten mich,
mit den Mitteln der österreichischen Akademie der Wissenschaften und
des Landesmuseums Joanneum in St. Margarethen zu forschen. Meine Arbeit
fand auch in der einsichtsvollen Klugheit der intelligenten Bergbauern
volles Verständnis, insbesondere bei Herrn Georg Gruber, Friedrich
Pogatschnigg, Bürgermeister Pogatschnigg und Vinzenz Zenz, die mir
in dankenswerter Weise ihre Felder bereitwillig zur Untersuchung zur Verfügung
stellten. Ich begann mit den Ausgrabungen auf der obersten Terrasse, auf
dem Gerichtsacker, auf dem ich ein zweiräumiges Haus ausgrub, setzte
meine Forschungen auf der mittleren Terrasse, auf dem Lusenboden fort,
auf dem ich nebeneinander zwei Gebäude fand, auf der untersten Terrasse
stand ein weiteres Haus, auf dem benachbarten Ährenfeld, ebenfalls
einem umfangreichen Plateau, standen eng nebeneinander abermals zwei Häuser.
Diese Versuchsgrabungen haben eine dichte, geschlossene, fast städtische
Besiedelung bei weiteren Terrassen festgestellt. Die Häuser haben
... verschiedene Größenverhältnisse zwischen 9,20 bis 5,60
Meter Länge und 6,10 bis 4,20 Meter Breite, drei Häuser sind
einräumig, zwei bestehen aus Vorraum und Herdraum. Ihre Bauweise ist
die bekannte prähistorischer Häuser; auf einem Sockel aus größeren
Steinreihen waren die Wände aus Holzstämmen aufgebaut, die Ritzen
und Fugen des Blockhauses mit Moos verstopft oder mit Lehm verstrichen,
das Dach mit Schilf gedeckt. In einem Haus waren in der Mittellinie zwei
mächtige Steinblöcke gelegt, die Unterlagen der Tragpfosten für
den Firstbalken. Der Herd lag auf dem großen Boden, war rot gebrannt,
rechteckig oder rund, manchmal mit einer niedrigen Steinsetzung eingefaßt.
Die Blöcke der Sockel waren zuweilen grob behauen. Eine Überraschung
brachte das größte Haus, das durch die Länge von 14,35
Metern und einer Breite von 8,25 Metern die anderen Häuser fast um
das Doppelte überragt und auch in seiner Bauart einzig dasteht. Eine
schmale Vorhalle von ungefähr 2,40 Metern Breite war an der Vorderfront
mit großen, zum Teil grob behauenen Steinblöcken ausgestattet,
die Unterlagen von vier Holzsäulen bilden dürften; zwischen den
Blöcken lagen noch drei längliche, rechteckig behauene Steine,
die sich zu zwei oder drei Stufen fügen. Eine Platte zeigte noch die
Stelle der Schwelle. Der vordere Raum war mit einem Lehmanstrich belegt,
der in den übrigen Häusern fehlte; noch sorgfältiger war
der Herdraum mit einem 15 Zentimeter höheren Lehmestrich ausgestattet,
in dessen Mitte ein 2,10 Meter langer und 1,70 Meter breiter Herd aus Bruchsteinen
gelegt war, mit Asche und Kohle reichlich bedeckt. Man darf dieses Haus
wegen seiner Ausstattung unbedenklich aus das Haus des Königs bezeichnen.
Die Funde, die innerhalb der Häuser gefunden wurden, waren nicht besonders
reichhaltig, Eisennägel, Werkzeuge aus Stein - besonders eine große
Kugel aus Serpentin ist beachtenswert - und vor allem Gefäßscherben,
die zum Teil aus Graphitton, zum Teil aus groben, mit Quarzsand vermengten
Ton gearbeitet waren und charakteristische formen der spätkeltischen
Periode (2. und 1. Jahrhundert v.Chr.) aufweisen; sie sind meist freihändig
gearbeitet, zeigen aber zum geringen Teil auch schon den Gebrauch der Töpferscheibe,
die gegen das Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts in Verwendung
kam. Ich fasse zusammen: in St. Margarethen bei Silberberg befindet sich
eine ausgedehnte vorgeschichtliche Siedlung der spätkeltischen Periode,
auf den breiten Terrassen stehen die Hütten dicht gedrängt in
geschlossener Siedlung, die Ränder des Plateaus bilden mit ihrem Steilabfall
eine natürliche Festung, die obersten Terrassen stellen das Kernwerk
dar, von ihnen konnte das Nahen des Feindes vom Süden, vom Westen
und Norden vortrefflich beobachtet werden. Das sumpfige Terrain des Hörfeldes
erschwerte außerdem eine feindliche Annäherung. Die Siedlung
in St. Margarethen bei Neumarkt können wir mit voller Sicherheit mit
Noreia identifizieren. Alle Nachrichten des Altertums treffen auf sie zu.
Strabo und Appian erzählen, daß bei Noreia im Jahre 113 vor
Christus der Kampf der Kimbern und Teutonen stattgefunden habe, in dem
der Konsul Papirius Carbo eine Niederlage erlitt. Noreia ist nach Strabo
1200 Stadien (213 Kilometer) von Aquileia entfernt, in seiner Umgebung
befinden sich reiche Goldwäschen und Eisenbergwerke. das alles trifft
auf St. Margarethen zu. Die Entfernung von Aquileia, die Strabo von kundigen
Kaufleuten, die mit den Norikern Handel trieben, erfahren konnte, stimmt
auffallend mit unserem Ort überein, ebenso der Abstand, den das Antoninische
Reisewerk und die Peutingersche Reisetafel für die römische Poststation
Noreia angeben, welcher das in der Nähe gelegene vorgeschichtliche
Noreia den Namen gegeben hat. In unmittelbarer Umgebung, unterhalb des
Zirbitzkogels, am Silberberg und von St. Bartholomä bis Hüttenberg
befinden sich, wie mir Schulleiter
Ludwig Zenz von St. Martin am Silberberg zeigte, alte Schürfe,
Stollen und Schutthalden dicht gedrängt nebeneinander und die Reste
des alten Bergbaues ziehen sich über den ganzen Kamm, über das
Körle bis zum Zosenkogel, in dem im sogenannten Wilden Keller ein
römischer Stollen enthalten ist. In der Gegend von Silberberg und
Hüttenberg finden wir also die ältesten und reichsten Spuren
der Eisenverhüttung in Noricum. Die innige Mischung von Magneteisenerz
und Eisenglanz, zu der in einigen Vorkommen (Pöllau) noch der Titangehalt
dazukommt, verleiht dem norischen Eisen und Stahl jene außerordentliche
Dichte und Festigkeit, die bereits Plinius an ihm rühmt. Dazu kommt,
daß Hofrat Professor Tornquist knapp unterhalb des Kammes oberhalb
Sankt Martin am Silberberg goldführende Schichten angetroffen hat.
Gold und Silber wurde außerdem auf der Grebenze und in Kliening im
Lavanttal gewonnen. Der reiche Bergsegen, vor allem das ausgezeichnete
und reiche Erzvorkommen bildeten die Veranlassung der Ansiedlung der Taurisker
in Noreia, in St. Margarethen, in dem hochgelegenen Ort, der übrigens
klimatisch außerordentlich begünstigt ist. St. Margarethen hat
den ganzen Tag Sonne, ist gegen die Nordwinde durch den Zirbitzkogel, vom
Westen durch die Grebenze geschützt, der schöne Herbst dauert
lang, der Winter ist gesund, er dauert bis Ende März, Anfang April,
der Schneefall ist nicht besonders reichlich, die Temperatur sinkt im Winter
selten unter 9 bis 10 Grad Celsius. Die breiten sanft gelegenen Berghänge
der Weiten Alm bis zum Zirbitzkogel hinauf, die breiten Plateaus bei Althaus,
bei Steinhof und Schönhof und im Tal der Oisa sind wie geschaffen
für ein gutes Gedeihen der Vieh- und Pferdezucht, die sauren Wiesen
des Hörfeldes geben gutes und reichliches Pferdefutter. Diese Vorzüge
gaben Noreia jene Bedeutung, die aus der knappen Erwähnung der Landeshauptstadt
des Königreiches Noricum bei den römischen Schriftstellern ersichtlich
ist. Ihr reicher Gold- und Eisengrubenbesitz sicherte ihnen die Hilfe der
Römer, mit denen die Noriker nach dem Feldzug des Q.Sempronius Tuditanus
im Jahr 129 vor Christus durch ein Freundschaftsverhältnis verbunden
waren. Aber die kluge Politik der norischen Könige versuchte zuweilen
noch ein zweites Eisen im Feuer zu halten. König Voccio hielt um 58
vor Christus gute Freundschaft mit dem Suebenkönig Ariovist, dem er
seine Schwester zur Frau gab. Ein anderer norischer König schickte
Cäsar zur Schlacht bei Corfinium im Jahre 48 vor Christus 300 Reiter
und verdoppelte damit die Kavallerie Cäsars,
die auch einen entscheidenden Einfluß in der Schlacht hatte.
Mit der Eroberung Noricums durch die Römer im Jahre 16 vor Christus
war freilich die Bedeutung Noreias dahin. Die neue Hauptstadt Virunum am
Zollfeld zog den Eisenhandel an sich, Noreia verödete; wie man aus
den Funden ersieht, brannte manches Haus ab, andere Häuser wurden
freiwillig verlassen und verfielen. Der Name wurde auf die neue römische
Poststation, die in Einöd oder auf der Hammerlhöhe bei Lind stand,
übertragen, nachdem die Römer die Klamm nördlich von Einöd
reguliert und eine neue Straße über Friesach, Einöd, Neumarkt
und den Perchauersattel angelegt hatten. Dadurch verlor der frühere
Handelsweg durch den Steyrergraben über das Hörfeld an Bedeutung,
das vorgeschichtliche Noreia versank in zweitausendjähriger Vergessenheit.
Prof. Dr. Walther SCHMIDT